In Gesundheitsbefragungen kommen Liebe und Partnerschaft üblicherweise nicht vor, auch wenn gemeinhin anerkannt ist, dass eine gute Beziehung eine wichtige Quelle für Gesundheit und Lebensqualität ist, und dass andererseits Einsamkeit und Beziehungsprobleme erhebliche gesundheitliche Risikofaktoren sind. Wir haben beschlossen, das Thema zu vertiefen, denn die Genfer Schwulen haben in der Vorstufe der Fokusgruppen deutlich gemacht, dass Liebe und Beziehung für ihre Gesamtgesundheit und ihre Lebensqualität das Wichtigste sind, dass sie aber gleichzeitig genau hier am wenigsten zufrieden sind.
Einen Partner (nicht nur einen Sexpartner) zu finden und in einer festen Beziehung zu leben ist für einen Grossteil der schwulen Männer weiterhin schwierig. Sie leben mehrheitlich den längsten Teil ihres Lebens alleine. Bis heute ist ein schwules Paar oft etwas Privates, das man nur mit engen Freunden teilt, die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft ist in der Schweiz noch sehr neu, und die Möglichkeit für zwei Männer, Kinder zu haben, ist noch die Ausnahme. All das führt dazu, wie die Forschung gezeigt hat, dass Probleme in Liebe und Beziehung die von Schwulen am häufigsten genannten Gründe für ihre Depression oder ihren Suizidversuch sind.
Mehr als 60% der Gays leben alleine, fast doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung. Etwas mehr als 40% sind in einer festen Beziehung, gegen 75% in der Gesamtbevölkerung. Tatsächlich ist es so, dass viele schwule Männer häufig Paarbeziehungen eingehen, diese aber von sehr kurzer Dauer sind: drei Viertel der Befragten erklären, dass sie in den letzten 12 Monaten eine feste Beziehung gehabt haben. Ein Grossteil der Schwulen geht also kurze, aufeinanderfolgende Beziehungen ein, und die Mehrheit lebt den grössten Teil des Lebens allein. Die Einsamkeit wirkt sich, wenn sie nicht eine bewusste Entscheidung ist, deutlich negativ auf das Alltagsleben, auf die sozialen Beziehungen, auf die physische und psychische Gesundheit aus, kann zu hohem Alkohol- und Drogenkonsum und zu Risikoverhalten führen (Sexsucht, auch nach virtuellem Sex, sexuelle Risikoverhalten usw.), mit denen eine existenzielle Leere kompensiert werden soll.
Mehr als 90% der Schwulen in einer Beziehung bewerten die Qualität der Beziehung mit ihrem Partner positiv, 65% sehr positiv. Etwa die Hälfte davon hat nie oder nur einmal in den letzten zwölf Monaten Spannungen erlebt. Das könnte den Eindruck erwecken, dass in schwulen Paaren alles in Ordnung ist. In Wirklichkeit sind die Beziehungen zwischen Gays mehrheitlich sehr kurz. Der Medianwert liegt bei zwei Beziehungen von mehr als sechs Monaten im ganzen Leben. Man kann die Ergebnisse daher auch so lesen: Man bleibt zusammen so lange alles gut geht, und trennt sich sofort, wenn etwas nicht geht. Das sollte an sich kein besonderes Problem sein, denn die meisten schwulen Paare bestehen aus zwei finanziell unabhängigen Erwachsenen ohne Kinder. Unsere Untersuchung hat aber gezeigt, dass Probleme in Liebe und Beziehung von Schwulen am häufigsten als Ursache für ihre Depressionen oder Suizidversuche angeführt werden. Das Beenden von Beziehungen ist also alles andere als harmlos und kann gravierende Folgen für die Gesundheit haben.
Insgesamt geht es schwulen Paaren gut. Mehr als die Hälfte der Männer erklären, dass sie solche Spannungen überhaupt nicht belasten. Sexuelle Beziehungen ausserhalb des Paares sind der Anlass für Spannungen, welche die Paare am meisten belasten, aber der Wert ist relativ niedrig (12%). Die Wahl gemeinsamer Freizeitaktivitäten und sexuelle Schwierigkeiten innerhalb der Beziehung stehen an zweiter respektive dritter Stelle. All das sind Wertungen schwuler Männer, die in der Mehrheit nur kurze Beziehungen erlebt haben. Die Ergebnisse wären für langjährige Paare wahrscheinlich anders. Der Umstand, dass die gemeinsamen Unternehmungen in der Freizeit Anlass zu Spannungen geben, mag überraschen. Allerdings leben schwule Männer oft alleine, entwickeln Gewohnheiten und Freundschaften, die sie für ihr Wohlbefinden brauchen, und haben nicht unbedingt Lust, diese mit ihrem Partner zu teilen oder sie für ihn aufzugeben. In einer Beziehung leben heisst nicht unbedingt, die Wohnung mit seinem Partner zu teilen und alles immer mit ihm zusammen zu machen. Das idealisierte Modell des heterosexuellen Paares ist nicht immer die richtige Lösung, um Dauerhaftigkeit und eine gute Beziehung zu garantieren.
Diese Daten bestätigen und bekräftigen die Ergebnisse aus den Fokusgruppen. 90% der Gays wünschen sich eine Beziehung. Dieser Abstand zwischen Wunsch und Wirklichkeit schafft Angst und manchmal Leidensdruck, vor allem bei jungen Gays, die auf der Suche nach einer Liebesbeziehung in eine Community gelangen, in der auf den ersten Blick und oberflächlich vor allem das häufige sexuelle Abenteuer zählt. Die Anreihung gescheiterter Beziehungen bei vielen Gays nährt in der schwulen Community den pessimistischen Diskurs über die Möglichkeit, dauerhafte Bindungen aufzubauen und führt manche dazu, an ihrer eigenen Beziehungsfähigkeit zu zweifeln.
Auf die Frage nach ihren Bedürfnissen bei der Suche nach einem Sexualpartner haben die Gays diese Antworten gegeben. Im wesentlichen geht es ihnen also darum, ihrer Einsamkeit zu entkommen und gemeinsame Zärtlichkeit zu erleben. Reale und virtuelle Treffpunkte sind in der Regel stark sexualisiert und bieten kaum Gelegenheit, diese Erwartungen zu befriedigen. Die LGBT-Gruppen sollten sich daher bemühen, ihr Angebot an Räumen zum Kennenlernen und für gemeinsame Aktivitäten auszubauen. Bis heute ist es sehr selten, zwei Männer auf der Strasse Händchen halten oder sich küssen zu sehen. Auch in schwulen Medien ist die Darstellung von Zärtlichkeit zwischen Männern eher die Ausnahme. Dieses Fehlen von Zeichen der Liebe und der Zuwendung zwischen Männern in der Öffentlichkeit und in den Medien führt dazu, dass Homosexualität auf ein sexuelles Verhalten reduziert wird.