Das Sexualverhalten homo- und bisexueller Männer ist im Zuge der Aids-Epidemie in unzähligen Untersuchungen erforscht worden, und schwule Männer sind wahrscheinlich die Bevölkerungsgruppe, deren Sexualpraktiken seit Mitte der 1980er Jahre am besten bekannt und am besten dokumentiert sind.
Sexualität frei ausleben zu können ist gut für die Gesundheit, das ist unumstritten. Sexualität beschränkt sich aber nicht auf Verhaltensweisen und Sexualpraktiken. Es geht auf um Wünsche, Bedürfnisse, Emotionen, Gefühle, Empfindungen.
In der Schweiz gibt es sehr wenig Forschung zur Sexualität. Dieses Desinteresse spiegelt wahrscheinlich die Hemmungen wider, die viele Ärzte und Forscher bis heute dabei haben, über dieses Thema zu reden, das doch für ein erfülltes Leben so wichtig ist.
Seit dem Ausbruch von Aids sind Schwule daran gewöhnt, von den Gesundheitsbehörden immer wieder nach ihren Sexualpraktiken befragt zu werden. So sollen die Entwicklungen im Risikoverhalten analysiert und die Präventionskampagnen entsprechend angepasst werden. Die Breite sexueller Praktiken ist gross und würde wahrscheinlich anders aussehen, würde man die gleichen Fragen heterosexuellen Männern stellen. Man sieht, dass drei Viertel der Schwulen Analverkehr praktizieren, dieser aber, anders als viele denken, nicht die beliebteste Form von Sex unter Homosexuellen ist. Ungefähr 15% praktizieren SM (sadomasochistische Sexspiele) und Faustficken. Angesichts der besonderen Gesundheitsrisiken dieser Praktiken veranstaltet Dialogai regelmässig Community-nahe Aktivitäten, bei denen eine sichere Ausübung solcher Verhaltensweisen vermittelt werden soll, zum Beispiel einen gut besuchten Vortrag mit anschliessender Diskussion über Analsex (lustvoll und ohne Risiko) und «Bondage»-Workshops im Rahmen des Programms Être gay ensemble.
Auf die Frage nach ihren wahren Bedürfnissen, wenn sie nach einem Sexualpartner suchen, haben die schwulen Männer so geantwortet. Viele Gays äusserten also Bedürfnisse nach emotionaler, sozialer und seelischer Zuwendung (in die Arme genommen werden, einen Partner finden, Einsamkeit durchbrechen, einander aufbauen). Die Orte, Räume und Apps der Gay-Szene konzentrieren sich aber auf das Vermitteln sexueller Kontakte und nicht auf dieses Bedürfnis nach Nähe. Für gewisse Schwule ist Sexualität auch ein Mittel, psychische Symptome abzubauen.
Diese Kreisdiagramme sind die logische Fortsetzung der vorherigen Grafik. Die grosse Vielzahl sexueller Abenteuer stillt nicht unbedingt das empfundene Bedürfnis nach emotionaler und sozialer Zuwendung. Das könnte erklären, dass nur 47% der schwulen Männer mit ihrem Sexleben zufrieden sind, gegenüber 76% der Gesamtbevölkerung, und dies obwohl Schwule im Durchschnitt bekanntlich im Laufe ihres Lebens mehr verschiedene Sexualpartner haben.